Stephan Thomae

THOMAE-Gastbeitrag: Die Freiheit braucht eine stärkere Stimme

In der Corona-Pandemie treten die Grundrechte teilweise in den Hintergrund. Aber nicht nur in dieser Ausnahmezeit sind diese Rechte bedroht. Es bedarf daher eines Ausschusses, der sich mit den Fragen der Freiheit kritisch auseinandersetzt.

 

Vieles lernt man erst zu schätzen, wenn man es nicht mehr hat. Durch die Corona-Pandemie wird uns dies tagtäglich auf eindrucksvolle Weise am Beispiel unserer Freiheits- und Bürgerrechte vor Augen geführt: Allgemeine Handlungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Freizügigkeit, Berufs- und Religionsfreiheit sowie Eigentumsgarantie sind Grundpfeiler eines freien und selbstbestimmten, aber auch wirtschaftlich unabhängigen Lebens des Einzelnen und einer demokratischen Gesellschaft.

 

Zur Bekämpfung der Corona-Pandemie wurden in Deutschland viele dieser Grundrechte massiv eingeschränkt. Dies war zu Beginn der Pandemie verhältnismäßig. Doch mit zunehmender Dauer greifen die Einschränkungen immer tiefer in die Grundrechte ein, lassen sich schwerer rechtfertigen und müssen daher kontinuierlich und kritisch auf ihre Verhältnismäßigkeit hin überprüft werden. Denn in unserem Rechtsstaat ist nicht die Freiheit des Einzelnen rechtfertigungsbedürftig, sondern ihre Einschränkung durch den Staat.

 

Maßgeblich für die Rechtfertigung von Freiheitseinschränkungen ist allein die Infektionsgefahr. Einige der ergriffenen Maßnahmen wie etwa die 800-Quadratmeter-Regelung, vor allem aber die Einschränkung der Versammlungsfreiheit und das pauschale Verbot der freien und gemeinschaftlichen Religionsausübung, erscheinen schon deshalb willkürlich, weil durch entsprechende Schutzkonzepte, bei denen die Hygiene- und Abstandsregelungen gewahrt werden, das Infektionsrisiko minimiert werden kann, wie die geordnete Demonstration am 19. April 2020 auf dem Rabin-Platz in Tel Aviv mit 2.000 Teilnehmern eindrucksvoll gezeigt hat.

 

Es ist bedauerlich, dass erst das Bundesverfassungsgericht daran erinnern musste, dass Grundrechte auch in Zeiten einer Pandemie gelten. Die Kontrolle der Grundrechtseinschränkungen darf allerdings nicht allein auf die Gerichte abgewälzt werden. Die Entscheidung über massive Grundrechtseinschränkungen ist in erster Linie Aufgabe der Politik, und insbesondere Aufgabe des Gesetzgebers, was in der aktuellen Krise oftmals vergessen wird.

 

Es sollte zudem eine unabhängige Freiheitskommission mit Experten aus den Bereichen Justiz, Wissenschaft und Zivilgesellschaft eingesetzt werden. Als unabhängiges Gremium ausgestaltet, ähnlich der Monopolkommission, dem Deutschen Ethikrat oder den „Wirtschaftsweisen“, kann sie die aktuellen freiheitseinschränkenden Maßnahmen und deren Lockerungen kritisch begleiten, Best-Practice-Beispiele sammeln und in regelmäßigen Berichten wichtige Impulse für eine kontrollierte und koordinierte Öffnungsstrategie liefern.

 

Diese Freiheitskommission sollte sofort eingesetzt werden, um direkt beratend in der Corona-Krise tätig werden zu können. Langfristig sollte sie institutionalisiert werden, um als ständiges Beratungsgremium in Gesetzgebungsverfahren mitzuwirken, etwa durch die Erstellung einer Überwachungsgesamtrechnung vor der Einführung neuer Überwachungsbefugnisse, um deren Auswirkungen auf die Freiheitsausübung und Demokratie zu untersuchen. Denn auch außerhalb von Krisenzeiten stehen die Bürger- und Freiheitsrechte häufig unter Druck, sei es im Zuge des digitalen Wandels oder durch politische Begehrlichkeiten unter dem Deckmantel der Terrorismus- und Kriminalitätsbekämpfung. Georg Orwells Utopie einer totalen Überwachung der Gesellschaft ist längst keine Unmöglichkeit mehr, sie ist technisch machbar.

 

Die Freiheitskommission könnte dem Wert der Freiheit eine stärkere Stimme geben, ohne gleich in die Schublade des politischen Gegners gesteckt zu werden. Sie kann und soll dabei weder Gerichte ersetzen, noch eine lebendige Opposition in den Parlamenten. Sie wäre jedoch in der Lage, den Fokus auf Freiheitseinschränkungen zu lenken, die öffentliche Diskussion bereichern und zu einer Versachlichung der oftmals sehr emotional geführten Debatten über neue Befugnisse für den Staat und staatliche Behörden beitragen.