Stephan Thomae

THOMAE im ntv-Interview zur Impf-Debatte

ntv.de: Es gibt weder genügend Impfmittel noch Kapazitäten, als dass sich jeder impfen lassen könnte. Doch Bundesminister Maas sinniert über eine indirekte Impfpflicht. Können Sie das nachvollziehen?

Stephan Thomae: Ja, weil sich die Frage schon bald stellen wird. Noch sind aber die Forschungsergebnisse abzuwarten. Die entscheidende Frage ist nicht, ob der Geimpfte sich noch selbst in Gefahr bringt, sondern ob er das Virus an andere, Nicht-Geimpfte übertragen kann. Es ist noch unklar, ob auch der Geimpfte in den Schleimhäuten des Nasen-Rachen-Raums weiterhin lebende Viren sitzen haben und ausatmen kann. Wenn von einem Geimpften aber keine Gefahr für andere mehr ausgehen sollte, gibt es keine Rechtfertigung, diese Geimpften an der Ausübung ihrer ganz normalen Rechte zu hindern.

In einem Restaurant, wo alle Angestellten und Gäste geimpft sind, gefährden sie einander auch nicht.

Das ist richtig. Deshalb schreiben ja auch schon einige ausländische Fluggesellschaften die Impfpflicht vor. Ein Kinobetreiber oder Restaurantbesitzer könnte natürlich sagen, wer einen Nachweis über eine Impfung oder Antikörper hat, den lass ich rein. Das darf man nicht verbieten, weder den Anbietern noch den Kunden. Es wäre merkwürdig, sie trotz solcher Nachweise an der Ausübung ihrer Rechte zu hindern.

Wäre es nicht hochproblematisch, wenn vormalige Grundfreiheiten zu Privilegien reduziert werden, die der Staat den Geimpften gewährt? Wo bleibt da das Recht auf freie Meinung, wenn man die Impfmittel als zu unsicher empfindet?

Ich vermeide den Begriff Privilegien, weil es ja nicht um Sonderrechte geht. Ich sage aber auch nicht, dass es keine Probleme gäbe. Einschränkungen nur für nicht Geimpfte etwa wären kaum zu kontrollieren, sobald die Hälfte der Menschen geimpft ist. Die Durchsetzung von Schutzmaßnahmen würde dann wahnsinnig schwierig. Umso wichtiger ist es, dass die Durchimpfung schnell erfolgt. Auch damit eine Zweiteilung der Gesellschaft möglichst kurzgehalten wird. Andernfalls werden die noch nicht Geimpften immer ungeduldiger. Es kommt da ein Riesenproblem auf uns zu.

Zugleich sind Gesundheitsinformationen sehr private Daten. Soll ein Kinobetreiber, Restaurantbetreiber oder Friseur künftig wirklich Impfnachweise einfordern dürfen?

Es handelt sich dann um eine freiwillige Vorlage. Es gibt Menschen, die aus persönlichen Gründen keine Impfung haben wollen, oder die wegen Vorerkrankungen nicht geimpft werden können. Diejenigen müssen in Kauf nehmen, noch ziemlich lange vom Kino- oder Restaurantbesuch ausgeschlossen zu bleiben. Das darf aber nicht zur verkappten Impfpflicht werden. Elementar wird es, wenn das auch Bildung und Beruf betrifft; wenn jemand also mangels Impfung nicht bestimmte Kurse besuchen darf oder bestimmte Arbeitsplätze nicht angeboten bekommt. Da kommen schwierige Fragen auf uns zu.

Aber braucht es denn Schutzmaßnahmen überhaupt noch so lange? Wenn erstmal die Risikogruppen durchgeimpft sind, werden die Kliniken weniger stark belastet. Die reinen Infektionszahlen können dann ja nicht mehr allein einen Lockdown begründen, oder?

Das ist richtig. Wenn mit der Durchimpfung der Risikogruppen etwa die Zahl der Toten sinkt, kann man Lockerungen vornehmen. Momentan wird in den Ministerpräsidentenkonferenzen immer nur über Verschärfungen gesprochen. Aber wie wir wieder geordnet herauskommen aus dem Lockdown, etwa durch sektorale Maßnahmen, wird nicht diskutiert.

Wie könnte das aussehen?

Die Lockdown-Maßnahmen sind sehr pauschal und rigide. Das lässt sich nicht lange durchhalten. Wir brauchen auch einen stufenweisen Plan für Lockerungen, der sich danach richtet, wo wirklich die Infektionsgefahren sind. Darüber weiß man leider noch immer zu wenig. Da muss sich aber stärker der Blick drauf richten. Gerade in Kinos und Restaurants lässt sich das relativ sicher gestalten, in der U-Bahn dagegen nicht. Dass Kinos und Restaurants geschlossen sind, während die U-Bahn fährt, ist gewissermaßen unlogisch.

Am Dienstag steht die nächste Lockdown-Konferenz von Bund und Ländern auf der Tagesordnung. Ihren Vorsitzenden ärgert, dass der Bundestag wieder außen vor bleibt. Teilen Sie Herrn Lindners Forderung nach einer Sondersitzung des Bundestags? 

Ja. Wir haben es mehrfach erlebt, dass beschlossene Maßnahmen schlecht erklärt wurden oder dass sie unlogisch waren und zum Teil zurückgenommen werden mussten. Würden solche Dinge im Bundestag debattiert, würden leichter Schwachstellen aufgedeckt. Fehlersuche ist doch unsere Aufgabe als Parlament. Wir machen das doch nicht, weil wir querulatorisch veranlagt sind.

Sie kennen die Kollegen aus den Fraktionen der Regierungsparteien. Müssten die nicht von ihren Ministern eine stärkere Beteiligung einfordern?

Es gibt ja auch einzelne, die das tun. Der CDU/CSU-Fraktionschef Ralph Brinkhaus hat im Dezember noch eine stärkere Einbeziehung des Parlaments gefordert. Wann solchen Worten auch Taten folgen, werden wir sehen. Vielleicht beruft der Bundestagpräsident von sich aus eine Sondersitzung ein. Die andere Möglichkeit ist, dass ein Drittel der Abgeordneten das fordert. Für ein Drittel reichen die Stimmen der demokratischen Oppositionsparteien aus FDP, Grünen und Linken nicht aus. Aber vielleicht gibt es da ja noch ein Umdenken bei dem einen oder anderen in den Regierungsfraktionen.

Mit Stephan Thomae sprach Sebastian Huld