THOMAE: Seehofers durchsichtige Wanzenwelt
Schon als Kind lernen wir zu taktieren. Beispiel: mein Sohn. Will er ins Kino gehen, bittet er mich statt der nötigen zehn Euro für die Karte um 15 Euro. Bin ich bereit, die Verhandlungen zu führen, was Zeit, Nerven und Empathie erfordert, einigen wir uns auf die zehn Euro für die Kinokarte. Gebe ich hingegen schon vorher klein bei, verfestigt sich der Eindruck, in Zukunft noch höhere Forderungen stellen zu können. Dass Kinder so ihre Grenzen austesten, ist legitim. Dass Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) auf ähnliche Weise Politik macht, ist es nicht.
Bei zahlreichen Gesetzgebungsvorhaben der Bundesregierung, insbesondere im sensiblen Bereich der Innen-, Rechts- und Sicherheitspolitik, wird das Prinzip deutlich: Vorschläge von Seehofer preisen regelmäßig einen über das Nötige hinausgehenden Puffer als Verhandlungsmasse mit ein.
Zunächst wird ein Bild der Angst beschworen, nur um kurz darauf eine vermeintliche Lösung zu präsentieren: Jedem sicherheitsrelevanten Ereignis folgt eine Forderung nach Gesetzesverschärfungen. Dass diese Maßnahmen kein Mehr an Sicherheit bringen, ist zweitrangig. Nur zu oft wird das fadenscheinige Argument der Terrorismusbekämpfung als Deckmantel genannt, um Ermittlungsbefugnisse der Sicherheitsbehörden auszuweiten, Bürgerrechte zu beschneiden und Schritt für Schritt das faktisch mit Verfassungsrang ausgestattete Trennungsprinzip zwischen Geheimdiensten und Polizei aufzuweichen. Doch der Zweck heiligt nicht die Mittel.
Der jüngste Vorschlag aus Bund und Ländern, Sicherheitsbehörden auf Alexa sowie andere digitale Assistenten und Haushaltsgeräte zugreifen und die gesammelten Daten auswerten zu lassen, geht noch einen Schritt weiter als Vorratsdatenspeicherung, Online-Durchsuchung und Quellen-Telekommunikationsüberwachung. Da mittlerweile nahezu jedes technische Gerät mit einem Mikrofon ausgestattet ist, wäre es das Einfallstor für eine Welt voller Wanzen. Wenn jeder Schritt, jedes Wort und jedes Handeln aufgezeichnet wird, ändert sich automatisch das persönliche Verhalten. Es könnte sich ein bedrohliches Gefühl des ständigen „Beobachtetseins“ einstellen. Zu einem solchen unverhältnismäßigen staatlichen Eingriff in das Privatleben der Bürger darf es unter keinen Umständen kommen. Richtervorbehalt und nachträgliche parlamentarische Kontrolle sind dann nur noch ein Feigenblatt.
Verfassungsklagen sind zwar eine Option, die wir als Partei der Bürgerrechte nicht scheuen – sei es beim bayerischen Polizeiaufgabengesetz oder beim Staatstrojaner –, sie fordern aber ihren Tribut. Der Weg bis zu einem Urteil ist lang und steinig, in der Zwischenzeit entfalten die verfassungswidrigen Gesetze ihre volle Schlagkraft und werden angewandt. Zudem ist das Bundesverfassungsgericht keine Superrevisionsinstanz und erst recht nicht der richtige Ort, parteipolitische Interessengefechte auszutragen. Wenn es aber um die Verteidigung der Bürgerrechte vor missbräuchlicher Beschränkung geht, handelt es sich nicht länger um einen politischen Dissens, sondern um rechtsstaatliche Grundsatzfragen.
Fest steht: Aus Sicht der Union macht es Sinn, übereifrige Sicherheitsgesetze zu verabschieden. Sie geht in jedem Fall als Gewinner vom Platz. Klagt niemand, ist ihre Position Gesetz. Wird geklagt, stampft Karlsruhe die legislativen Fehltritte ein. Deshalb hat die leichtfertige Missachtung verfassungsrechtlicher Grenzen in der Union Methode. Sie ist Ausdruck der frühzeitig erlernten strategischen Verhandlungsführung.
Die Sicherheitsbehörden müssen natürlich mit den Entwicklungen Schritt halten und auf Augenhöhe agieren können. Das darf aber nicht bedeuten, dass der Staat alles einsetzen darf, was technisch möglich ist. Die Bürgerrechte müssen wieder mehr ins Zentrum des politischen Handelns rücken und bei Gesetzesvorhaben von Anfang an konsequent mitgedacht werden. Der Staat darf dabei nur so weit in die Grundrechte eingreifen, wie es zwingend erforderlich ist. Eine darüber hinausgehende Sicherheitsreserve darf es ebenso wenig geben wie einen Ausverkauf der Bürgerrechte.