THOMAE: Wir sollten wissen, wer unterwegs ist
Stephan Thomae parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, fordert einen rechtlich verbindlichen Verteilmechanismus für Flüchtlinge in der Europäischen Union, der auch in Zukunft gilt. „Freiwillig Menschen aufzunehmen mit dem Hintergedanken, beim nächsten Mal dann aber wieder Nein zu sagen, ist keine Basis in der Europäischen Union“, sagte der Abgeordnete für den Wahlkreis Oberallgäu.
Herr Thomae, die Solidarität mit den Kriegsflüchtlingen ist riesig in Deutschland. Aber Mitgefühl allein reicht nur, um die Menschen gut aufzunehmen. Ist Deutschland auf diese Fluchtbewegung vorbereitet?
Die Bereitschaft der Deutschen, ehrenamtlich zu helfen, ist enorm. Viele nehmen fremde Menschen bei sich auf, andere stehen seit Tagen an Bahnhöfen, um Flüchtlinge aus der Ukraine in Empfang zu nehmen. Dieses Engagement ist bewundernswert. Aber es kann keine dauerhafte Lösung sein. Wir brauchen Mechanismen, um der großen Zahl von Kriegsflüchtlingen gerecht zu werden. Die Menschen müssen auf die Bundesländer verteilt werden. Die Senatsverwaltung in Berlin, aber auch die Regierungen in den anderen Bundesländern müssen auf Krisenmodus schalten.
Haben sich die Behörden zu sehr auf die Hilfe der ehrenamtlichen Helfer verlassen?
Ohne die Ehrenamtlichen würde es nicht funktionieren. Das ist kein gutes Zeugnis für die Behörden. Denn aktuell scheint es oftmals so, als würde die eigentliche Last auf den Schultern der freiwilligen Helfer liegen. Das muss sich ändern. Die Behörden sollten sich ein Beispiel an einem Betrieb nehmen, der einen Großauftrag bekommt. Der stellt auf Schichtbetrieb um und schaut, ob er Mitarbeiter von weniger wichtigen Aufgaben abziehen kann. Genauso müsste es jetzt in der Verwaltung laufen.
Das Bundesinnenministerium setzte bis Freitag auf Freiwilligkeit bei der Verteilung. Wurde da wichtige Zeit vertan?
In der ersten Phase der Fluchtbewegung aus der Ukraine kamen sehr viele Menschen bei Verwandten, Bekannten, Freunden in Polen, Portugal oder auch Deutschland unter. Aber jetzt kommen immer mehr Kriegsflüchtlinge, die solche Verbindungen nicht haben. Um sie angemessen unterzubringen, brauchen wir Regeln - und die haben wir ja auch. Mit dem Königsteiner Schlüssel können die Menschen fair auf die Bundesländer verteilt werden. Jetzt muss dieser Verteilmechanismus eben auch angewandt werden.
Ein Problem bei der gerechten Verteilung ist doch aber, dass Bund und Länder überhaupt nicht wissen, wie viele ukrainische Flüchtlinge sich tatsächlich in Deutschland aufhalten.
Das stimmt. Um die Verteilung der Flüchtlinge innerhalb Deutschlands, aber auch innerhalb der Europäischen Union zu regeln, müssen wir genaue Zahlen kennen. Deshalb plädiere ich dafür, an den EU-Außen- und Schengengrenzen zu registrieren, wer nach Polen, Ungarn, die Slowakei oder Rumänien kommt. In einem zweiten Schritt sollten die Kriegsflüchtlinge auch an der deutschen Grenze registriert werden. Mir geht es dabei nicht um Abschottung, aber wir sollten wissen, wer unterwegs ist und welche Größenordnung die Fluchtbewegung hat. Die meisten Flüchtlinge sind Frauen und Kinder, da haben wir eine besondere Verantwortung.
Wie zuversichtlich sind Sie, dass sich jetzt, anders als in den vergangenen Jahren, alle EU-Mitgliedstaaten solidarisch zeigen?
Die EU ist ein Raum des Rechts. Es geht nicht nur um die Frage, wer etwas freiwillig leisten will, sondern auch um die Frage, wozu wir in der europäischen Werte- und Rechtsgemeinschaft verpflichtet sind. Freiwillig Menschen aufzunehmen mit dem Hintergedanken, beim nächsten Mal dann aber wieder Nein zu sagen, ist keine Basis in der Europäischen Union. Polen hat bislang Brüssel nicht aufgefordert, einen europäischen Verteilschlüssel anzuwenden, die polnische Regierung setzt auf Freiwilligkeit. Das kann aber auf Dauer nicht funktionieren.
Die EU sollte also die Gelegenheit nutzen, in der Migrationspolitik Regelungen zu schaffen, die über den Ukraine-Krieg hinausgehen?
Ja. Flüchtlingshilfe ist eine humanitäre Verpflichtung. Und das bedeutet, dass rechtlich verbindliche Regeln für alle gelten. So wie wir jetzt Ukrainer aufnehmen, brauchen wir auch verbindliche Regeln für die Verteilung geflohener Iraker, Afghanen oder Marokkaner. Denn eine humanitäre Verpflichtung gilt auch dann, wenn die Lage schwierig ist. Deshalb braucht es einen Verteilmechanismus in der Europäischen Union, an den die Mitgliedstaaten auch in Zukunft gebunden sind. Wir brauchen ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem, das auch Länder wie Griechenland, Italien, Zypern und Malta entlastet.
Die Hälfte der Kriegsflüchtlinge sind nach Schätzungen Kinder. Sind die Städte und Gemeinden in Deutschland darauf eingestellt?
Derzeit ist es schwierig abzuschätzen, wie viele Kriegsflüchtlinge überhaupt in Deutschland Schutz suchen werden. Die Gemeinden bereiten sich aber darauf vor, Unterkünfte zu schaffen und für eine medizinische Versorgung zu sorgen. Die Kinder, die zu uns kommen, brauchen nicht nur einen Platz in Kita oder Schule, sondern auch Sprachunterricht und psychologische Betreuung. Wir werden das stemmen, auch wenn die Herausforderung groß ist.